Unterwegs / „onderweg – an Rhein und Maas“ – so nennt sich das Projekt 2017 des Kulturraums Niederrhein e.V.: Museen, Organisationen und Vereine beleuchten das Thema unter den unterschiedlichsten Fragestellungen – vom richtigen Schuhwerk für UNTERWEGS über ein- und auswandern bis zu Zeitreisen und Reisebildern. In Willich beschäftigt sich eine Gruppe aus Heimathistorikern mit einer besonderen Form der „Fluchtwege“: Was passierte mit den Menschen, die als Flüchtlinge und Vertriebene nach 1945 in die Altgemeinden Willich, Schiefbahn, Anrath und Neersen kamen?
Akribische Daten-Erfassung
Das Team unter Leitung von Kurator Bernd-Dieter Röhrscheid bereitet eine multimediale Ausstellung im Heimatmuseum Kamps Pitter in diesem Herbst vor. Die Mitglieder des Anrather Bürgervereins und der Heimat- und Geschichtsfreunde Willich haben als erstes eine Fleißarbeit geleistet: Unter anderem wurden 165 Ordner mit Anträgen für Flüchtlingsausweise und anderen Unterlagen durchgearbeitet. Jeder einzelne Mensch hinter dem Papier wurde in eine Datenbank eingetragen – insgesamt wurden so 4723 digitale Personen-Einträge für Willich, Neersen, Schiefbahn und Anrath realisiert.
Besonders akribisch hat dabei Franz-Josef Jansen vom Bürgerverein Anrath für diesen Stadtteil gearbeitet: Er hat 1054 Menschen erfasst – jeweils mit 20 Zusatzinformationen wie etwa Konfession, Alter, Wohnort vor Flucht/Vertreibung oder mit Zwischenstationen. Über das Archiv-System FAUSTi werden alle diese Informationen im Oktober auf der Internetseite der Stadt Willich online gehen, „dann kann jeder sehen, ob sein Vater oder Großvater ein Flüchtling war“, so Röhrscheid. Dabei werden allerdings aus Datenschutzgründen nur Stammdaten erfasst. Kann ein Bürger dann einen Verwandten fi nden, kann er die Originalakten im Stadtarchiv einsehen und mehr über diesen erfahren.
Allein schon der Blick auf die Statistik gibt viele Aufschlüsse auf die Situation nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges: Insgesamt wurden 4723 Menschen erfasst – wobei es ein Irrglaube ist, dass der größte Teil evangelisch war. Die Zahlen belegen, dass 2873 ev. Christen kamen, 1586 waren katholischen Glaubens. 1054 Menschen wurden in Anrath angesiedelt, 1738 in Willich, 1025 in Schiefbahn und 906 in Neersen.
Dazu kann man aber auch andere Strukturen erkennen und Informationen erhalten. Ein Beispiel ist der Eintrag von Irmgard Latz – die später als Irmgard Gerlatzka zu sportlichen Ehren in Willich kam. Auch weiß man jetzt, dass eine Familie, die heute aus dem Stadtbild nicht mehr wegzudenken ist, ursprünglich nach Holland geflohen ist: Die Familie Brings, Betreiberin des gleichnamigen Bus-Unternehmens, wurde erst später als Deutsche nach Deutschland gewiesen. In den Akten finden sich die unterschiedlichsten Dokumente, mit denen die Vertriebenen ihre Herkunft belegten – so brachte eine Frau ein Dokument von Louis Ferdinand Prinz von Preußen bei, der ihren früheren Wohnort in Cadinen (Westpreußen) belegt. Viele kamen auch erst nach einem Zwischen-Aufenthalt in der „sowjetisch besetzen Zone“ in den 50er Jahren nach Westdeutschland.
Aus dem Zahlenmaterial erstellt Lukas Maaßen Visualisierungen, die zeigen,woher die Gruppen kamen und wie sie sich auf die vier Alt-Gemeinden verteilten.
Filmsequenzen
Zu den Dokumenten haben die Heimatforscher Zeitzeugen-Interviews gefilmt – aus insgesamt elf Interviews werden Sequenzen zusammengestellt. Die mündlichen Berichte und die Gesichter der Befragten vermitteln eindrucksvoll ein Bild davon, was sie erlebt haben – Flucht bei minus 47° im Winter, eine achttägige Fahrt in Viehwagen oder auch die Geschichten, wie sie hier ankamen und – nicht immer freundlich – empfangen wurden: „Flüchtlinge wurden als Zigeuner angesehen. Wir hatten ja nichts.“