Die Erinnerungskultur an die vertriebenen oder ermordeten jüdischen Mitbürger hat in Willich einen festen Platz. In unserem Stadtmagazin und online möchten wir einen Beitrag dazu leisten und berichten über die „Geschichte der Juden in Willich“ – Basis ist das Buch von Bernd-Dieter Röhrscheid und Stadtarchivar Udo Holzenthal. In diesem zweiten Teil fasst Bernd-Dieter Röhrscheid die Ereignisse der zweiten Deportation am 11. Dezember 1941 zusammen.
Im Oktober 1941 war die siebenköpfige Familie Kaufmann aus Schiefbahn nach Litzmannstadt (Lodz) in Polen deportiert worden. Niemand in Schiefbahn hatte ein Lebenszeichen von ihnen erhalten, da mussten Anfang Dezember 1941 schon wieder Koffer mit dem Notwendigsten gepackt werden, um das Zuhause, die Heimat verlassen zu müssen, ohne Sicherheit für das zukünftige Leben.
Diesmal traf es jüdische Menschen aus Anrath, Schiefbahn und Willich. Die Geschwister Friederika und Henriette Cohen, damals 60 und 62 Jahre alt, die Geschwister Berta und Moses Grünewald (Jahrgang 1887 und 1888) und die Vettern Herbert (33) und Fritz Servos (32 Jahre) mit seiner Frau Charlotte (27) mussten Anrath verlassen. Fritz und Charlotte Sabel aus Krefeld hatten nur wenige Tage vor der Deportation in Krefeld geheiratet, in der Hoffnung dadurch zusammenbleiben zu können.
Schiefbahn und Alt-Willich
Nur wenige Kilometer entfernt in Schiefbahn mussten sich zur gleichen Zeit Familie Rübsteck mit Albert (49), seiner Frau Betty (41) und deren Kinder Ruth Sophie (12 Jahre) und Werner (15) sowie Alberts Bruder Leopold (56) und die zur Familie gehörende Cäcilie Wolff (52) am Schiefbahner Rathaus melden. Ebenso betroffen war die Familie Schönewald mit Otto (33) und Klara Schönewald (35), sowie deren kleinem, gerade vierjährigen Sohn Bruno. Brunos Großmutter Johanna (Hulda) Wallach (61) und Lina Wallach (60) waren ebenso betroffen wie Rosetta Salm (69) mit ihrem Sohn Albert (33).
In Alt-Willich sahen sich am 11./12. Dezember 1941 der Metzger Albert (62) und seine Frau Karoline (49) zum letzten Mal, ohne das sie der Stacheldraht im Ghetto trennte. Deren Kinder Ernst Max (*1921) und Ruth (*1921) hatten noch rechtzeitig vor der Deportation nach England bzw. in die USA flüchten können. Karoline wurde 1941 in Riga-Jungfernhof ermordet. Albert starb 1943.
Die Strapazen des Transports
Alle 22 Menschen wurden auf offene Lastwagen verladen und mit ihrem Gepäck zum Güterbahnhof in Krefeld verfrachtet. Dort trafen sie auf weitere Juden aus Krefeld, Kempen, Moers und der Umgebung. Krefeld war nur eine Zwischenstation auf der Strecke des Transportes nach Riga. Weiter ging es in vollgepfropften Waggons, später lange Strecken zu Fuß bis nach Düsseldorf-Derendorf. Auf diesem Weg hat die zwölfjährige Ruth furchtbar geweint, berichtete ihr überlebender Bruder Werner später. Ein Wachmann der Nazis hatte ihr beim „Filzen“ ihren Ring, den sie noch am Finger trug, abgenommen. Im Schlachthof Derendorf mussten sie stehend die eiskalte Nacht verbringen. „An Schlaf war nicht zu denken!“, berichteten die wenigen Überlebenden dieses Transportes. Erst am Mittag des 11. Dezember 1941 setzte sich der Zug mit 1007 jüdischen Menschen vom linken Niederrhein in Bewegung. Er erreichte die Stadt Riga am 13. Dezember bei 12 Grad unter Null.
Dort mussten die „Willich“ Juden in Wohnungen einziehen, in denen bis unmittelbar vorher lettische Juden gehaust hatten. 27.000 lettische Juden wurden im November/Dezember ermordet, um das Ghetto für Juden aus dem Reich frei zu machen. Doch bald nach der Ankunft wurden die meisten Männer und Frauen getrennt. Die Männer kamen ins Vernichtungslager Salaspils und starben dort an Typhus, wurden teils erschossen oder erhängt.
Das Leid der Kinder
Besonders erschreckend sind die Geschehnisse um die jüdischen Kinder. Ruth Rübsteck überlebte mit ihrer Mutter die Hölle des Ghettos. Beide wurden auf einem Todesmarsch ins Vernichtungslager Auschwitz verschleppt und dort am 5. November 1943 ermordet.
Als alle Kinder das Ghetto verlassen sollten, um Platz für weitere deportierte Juden zu schaffen, versuchte Vater Otto Schönewald alles, um seinen Sohn zu retten. Er grub ein Erdversteck im nahen Wald und versteckte den Jungen dort. Als er wieder zur Unterkunft im Ghetto zurückkam, standen bewaffnete SS-Scharführer mit zehn seiner jüdischen Mitbewohner vor der Tür. Wenn er den Jungen nicht sofort wieder holte, würden die zehn Juden nacheinander erschossen. Otto holte den Jungen und ging mit ihm und seiner Frau Klara in den Tod. Sie wurden im Kaiserwald in Riga erschossen.
Nur Werner Rübsteck überlebte mit unglaublichem Glück diese Zeit. Er arbeitete in der Autowerkstatt der SS. 1944 kam er in das KZ Stutthof, danach musste er in einer Danziger U-Boot-Werft als Schweißer arbeiten. Anfang 1945 brachte ihn der Typhus an den Rand des Todes. Gerade noch rechtzeitig befreite ihn die Rote Armee. Im Mai 1945 machte er sich auf den Weg nach Westen. Nach den unsäglichen Strapazen kehrte er im Sommer 1945, erst 17 Jahre alt, nach Schiefbahn zurück. Schnell wurde ihm klar, dass niemand aus seiner Familie überlebt hatte. In Deutschland zu leben, war für ihn nicht mehr denkbar.1948 wanderte er illegal nach Palästina aus. Dort heiratete er seine Frau Livia, mit der er zwei Töchter hatte. Seine Töchter Ruth und Anat und der Enkel Nir nahmen an den Stolpersteinverlegungen für ihre ermordete Familie im Dezember 2012 in Schiefbahn ebenso teil, wie an der Benennung der Rübsteckstraße in Knickelsdorf.
Von den anderen Deportierten überlebte niemand. Sie verhungerten oder starben an Krankheiten und Schwäche im Ghetto. Die meisten wurden im Wald von Bikernieki bei Riga mit Genickschüssen erschossen und in Massengräbern verscharrt. Fritz und Charlotte Servos überlebten zwar das Ghetto. Charlotte wurde aber am 22.10.1944 im KZ Stutthof ermordet, Fritz starb 1944 in Buchenwald.
Gegen das Vergessen
Für alle nach Riga Deportierten organisierten Schüler und Schülerinnen des St.-Bernhard-Gymnasiums mit ihrem Lehrer Bernd-Dieter Röhrscheid und Stadtarchivar Udo Holzenthal Verlegungen von Stolpersteinen „Gegen das Vergessen“. Als kleine dezentrale Mahnmale, die vor den Häusern verlegt wurden, wo sie vor der Deportation gelebt hatten, erinnern sie an diese Menschen, deren Namen nicht vergessen werden sollen.